Bei jedem Spaziergang im Wald treffen wir auf Reh, Wildschwein & Co. Auch wenn wir sie nicht immer sehen, unsere Hunde haben sie mit ihren feinen Sinnen längst wahrgenommen. Es liegt in ihrer Natur, sie aufzuspüren und ihnen nachzujagen. Warum dieses Verhalten für alle Tiere gefährlich werden kann, ist aber vielen Haltern nicht bewusst.

Rehe sind hetzenden Hunden hilflos ausgeliefert, denn ihre einzige Waffe ist die Flucht. Ich höre sehr oft die Rechtfertigung „Aber mein Max erwischt sie ohnehin nicht!“. Das mag in den meisten Fällen auch so sein, dennoch ist der zugefügte Schaden immer groß. Rehe sind nämlich weder Langstreckenläufer noch Sprinter. Ihre Fluchtstrategie ist das sogenannte „Schlüpfen“. Das heißt, sie machen ein paar schnelle Sprünge, huschen (schlüpfen) ins Gebüsch, bleiben stehen und orientieren sich neu. Das ist eine sehr energiesparende Art der Flucht und genau darauf sind ihre Körper ausgelegt: Energie zu sparen!

Beim Waldspaziergang achtsam mit Wildtieren umgehen
Fast lautlost steht das Reh im Unterholz
© Joris Machholz

Wenn sie zu mehreren unterwegs sind, trennen sie sich bei der Verfolgung. Der Vierbeiner konzentriert sich dann, je nach Erfahrung, auf ein einzelnes Tier oder läuft im Spurenwirrwarr erst einmal planlos hektisch und aufgeregt japsend im Zickzack umher. Sein Japsen verrät der vermeintlichen Beute seinen Aufenthaltsort und gibt ihr Zeit für eine weitere Planung der Flucht. Ist der Hund aber hinter einem einzelnen Tier her, hat es diese Zeit nicht und müsste unter Hochdruck abschätzen, ob es besser verborgen bleibt oder sich durch Wegspringen verraten soll. Im ersten Fall käme es auf die Nase des Vierbeiners an, im zweiten auf die Beschaffenheit des Fluchtweges. Offenes Gelände bringt dem Hund Vorteile, dicht bewachsener Wald dem Reh. Den Rest kann sich vermutlich jeder vorstellen.

Die Folgen des Hetzens

Rehe sterben sehr viel öfter an Erschöpfung oder Verletzungen, die sie sich auf der Flucht zuziehen, als an Hundebissen selbst. Je nach Jahreszeit kann der sinnlose Energieverlust durch das Hinterherjagen zum Tod führen. Bedingt durch die Eiruhe beginnt sich der Fötus im Leib des trächtigen Tieres erst im Dezember zu entwickeln. Ein weibliches Reh muss also nicht nur die Nahrungsknappheit im Winter ausgleichen, sondern auch noch für sein wachsendes Ungeborenes gut mit seinen Reserven haushalten.

Im Frühling und Frühsommer steht die Geburt an oder die Mütter müssen ihre Jungtiere versorgen. Im Sommer rauben Paarungszeit und Aufzucht der Kitze viel Energie. Nur der Herbst bietet Rehen die Chance, ausreichend Reserven für den Winter anzulegen. Jede Verschwendung derselben rächt sich in den kommenden Wochen und Monaten.

Beim Waldspaziergang achtsam mit Wildtieren umgehen
Der Hund wittert schnell ein Reh
© Judith Dzierzawa

Wie sich Rehe bemerkbar machen

Ein plötzliches Rascheln im Gebüsch, knackende Zweige und weiße Hinterteile, die durch das Dickicht hüfen, verraten ihre Anwesenheit. Übrigens ist genau das eine deutliche „Fang mich“-Einladung für den Hund. Wir können die Spuren der Rehe an abgeschälten Baumrinden erkennen, der Vierbeiner nimmt den Duft von ihren Scharrstellen wahr. Außerdem gibt es natürlich noch die Trittsiegel im Schnee oder Matsch. Wenn der Hund plötzlich stehen bleibt, die Nase hoch in den Wind hält und sich sein Fell sträubt, können Sie sicher sein, dass er gerade einen rotbraunen Waldbewohner gewittert hat. Sind die Spuren im Boden frisch, hält er die Nase kurz darüber und gibt mit den Hinterbeinen direkt Hackengas.

Achtung vor Wildschweinen

Wie alle Wildtiere werden die Paarhufer Auseinandersetzungen möglichst vermieden. Es sei denn, sie werden überrascht, in die Enge getrieben oder sehen ihren Nachwuchs in Gefahr. Bei einem Spaziergang durch den Wald erkenn wir sie an dem typischen Maggi-Geruch, den sie verbreiten und an aufgewühlter Erde. Es ist durchaus mögich auf kleine Gruppen von zwei bis drei Wildschweinenen zu treffen. Dabei handelt es sich meist um junge Männchen, die sich von der Mutter getrennt haben und sich nun ihr eigenes Gebiet erschließen. Diese Jugendlichen haben genug damit zu tun, selbstständig zu werden und meistens siegt bei ihnen die Vorsicht über Neugier und Übermut.

Beim Waldspaziergang achtsam mit Waldtieren umgehen
Eine gefährliche Situation
© Natallia Yaumenenka

Erwachsene Keiler bekommen wir kaum zu Gesicht, weil sie erfahren und selbstbewusst sämtliche Eindringlinge aus der Entfernung beobachten, einschätzen und ihnen aus dem Weg gehen – außer während der Paarungszeit in den Wintermonaten. Dann verwandeln sie sich in unwirsche Testosteronbolzen, die jede Herausforderung annehmen. Selbst schuld, wer ihnen dabei in die Quere kommt …

Drei Monate, drei Wochen und drei Tage nach der Paarung wird es aber für Hunde wirklich gefährlich. Beim Schutz des Nachwuchses verstehen Wildschweinmütter keinen Spaß und verteidigen ihn vehement gegen jeden Eindringling. Wer zu dieser Zeit in ihren Lebensraum eindringt, muss sich der Folgen bewusst sein.

So verhalten Sie sich bei einem Zusammentreffen

Bei einem Aufeinandertreffen sollten Sie sich höflich verhalten und sämtliche Beschwichtigungsgesten zeigen, die Ihnen einfallen: Handflächen nach vorne, Körper wegdrehen, Gesicht abwenden und langsam rückwärtsgehen. Halten Sie den Hund nah bei sich. Treffen Sie allerdings auf eine Bache mit auf dem Rücken gestreiftem Nachwuchs, drehen Sie sofort um und suchen schleunigst das Weite. Ihr vierbeiniger Begleiter sollte so schnell wie möglich flüchten, deshalb lassen sie ihn von der Leine, damit er davonlaufen kann. Bachen rammen, stoßen und beißen. Ein größerer Hund bietet ihnen eine entsprechende Angriffsfläche. Je kleiner und flinker er ist, umso besser kann er bei einem Angriff ausweichen.

Erziehung aus Rücksicht

Beim Waldspaziergang achtsam mit Wildtieren umgehen
Mensch und Hund müssen Rücksicht nehmen
© Robert Kneschke

Manche Wildtiere sind durchaus wehrhaft und können unseren Fellpfoten gefährlich werden, manche sind vollkommen von unserer Weitsicht und Vernunft abhängig, aber alle leiden unter Störungen und dem dadurch verursachten sinnlosen Energieverbrauch. Wildtiere haben keine gefüllten Näpfe vor sich stehen und niemand geht mit ihnen zum Tierarzt, wenn sie verletzt oder zu Tode erschöpft sind.

Wie sollte also der Halter seinen Hund erziehen damit aus Wildtiersicht vernünftige Spaziergänge möglich sind? Beginnen Sie nicht bei ihrem Vierbeiner, sondern bei sich selbst! Beschäftigen Sie sich mit den von Ihnen gewählten Gassigebieten. Welche Tiere sind dort zu erwarten? Welchen Lebensrhythmus haben sie? Wie sehen die Spuren ihrer Anwesenheit aus? Treten Sie in die zweite Reihe und beobachten Sie Ihren Hund. Er weiß nicht nur bedeutend mehr über Wildtiere als sie, er kann Ihnen auch sehr genaue Auskünfte über deren Aufenthaltsort geben.

Wenn Sie ihn mit einer langen Leine sichern (bitte nur in Verbindung mit einem Brustgeschirr), kann nichts passieren und Sie sich ganz entspannt Ihren gemeinsamen Entdeckungen widmen. Gemeinsam gesichert die Gegend zu erkunden ist sehr viel schöner, als ständig auf der Hut zu sein und Verbote auszusprechen oder angespannt darauf zu hoffen, dass der bis zum Erbrechen geübte Rückruf auch tatsächlich im Ernstfall funktioniert. Ulli Reichmann

Sei mein Scout – Was Hunde über Wildtiere wissen und wie wir von ihnen lernen können

Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für ein harmonisches und respektvolles Miteinander – sowohl mit den Tieren des Waldes, der Wiesen und der Auen wie auch mit den Hunden. Ulli Reichmann beschreibt ihre Liebe zur Natur und zu unseren Mitgeschöpfen und plädiert dafür, diese zu respektieren und wertzuschätzen. Illustriert durch zahlreiche Abbildungen zeichnet sie ganz persönliche Portraits der am häufigsten anzutreffenden Wildtiere. Wie reagieren unsere Vierbeiner auf sie, auf die verschiedene Spuren im Wald und wie teilen sie uns mit ob ein Reh, Wildschwein, Fuchs oder Biber sich in der Nähe befindet? Sie erklärt, wie wir das Anzeigeverhalten der Hunde lesen und verstehen können, wie wir an ihren Entdeckungen teilhaben und auch, welche Vorsichtsmaßnahmen bei der Begegnung mit Wildtieren zu treffen sind.

animal Learn Verlag, ISBN 978-3-936188-77-6, 29 €