Wie heißt es so oft, mein Rüde ist sexuell übermotiviert und eine Kastration soll Abhilfe schaffen. Doch inwieweit ist dieser Eingriff sinnvoll und welche Auswirkungen nimmt er auf die Entwicklung und das Verhalten des Vierbeiners?

Grundsätzlich stellt die Kastration eine Amputation dar und ist, von medizinisch indizierten Fällen abgesehen, nach § 6 TierSchG verboten. Die Entnahme der Sexualorgane bedeutet einen massiven Eingriff in den Hormonhaushalt, der nicht nur einen veränderten Stoffwechsel und erhebliche gesundheitliche Auswirkungen, beispielsweise auf das Knochenwachstum, die Muskulatur, das Bindegewebe, die Gelenke, das Herz-Kreislauf-System und die inneren Organe, zur Folge hat, sondern sich auch in Fellveränderungen und im Verhalten des Tieres widerspiegelt.

Kastration kann sogar neue Probleme hervorrufen

Zwar hat es sich in den letzten Jahren herumgesprochen, dass die Kastration keine Allzweckwaffe für unerwünschte Verhaltensweisen ist oder gar Erziehungsfehler beseitigen kann. Vor allem ist sie dann keine Lösung, wenn es um Verhaltensprobleme handelt, die nicht durch Geschlechtshormone beeinflusst werden. So ist zum Beispiel die territoriale Aggression, das Streunen oder Beutefangverhalten völlig unbeeinflusst vom Sexualverhalten. Ebenso muss das viel zitierte Aufreiten immer im Kontext betrachtet werden und entpuppt sich oft als eine Bewegungsstereotypie zum Stressabbau.

Aufreiten kann auch Stressabbau sein
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Worüber sich viele Hundebesitzer allerdings nicht im Klaren sind, ist, dass mit einer Kastration biologische Entwicklungsstörungen einhergehen undneue Verhaltensprobleme entstehen können. Zumal auch ein kastrierter Rüde beim Anblick einer läufigen Hündin mit entsprechend großem Reizpotenzial das gesamte Sexualverhalten aufzeigen oder die kastrierte Hündin beim Einzug eines Welpen scheinträchtig werden kann.

 

Frühkastration und ihre Folgen

Die sogenannte Frühkastration, also der gesamte Zeitraum vor dem Abklingen der Pubertät hat immer zur Folge, dass die Hündin oder der Rüde aufgrund des Wegfalls der Hormone ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung beraubt wird. So findet der gesamte Umbau im Gehirn, der sich in der Pubertät vollzieht, abgeschwächt oder überhaupt nicht statt. Die Hunde bleiben sozusagen in ihrem „frühkindlichen“ Entwicklungsstadium stecken. Frühkastraten sind erfahrungsgemäß chaotisch, unsichere Kindsköpfe, deren geistige Leistungsfähigkeit nicht voll ausgereift ist. Ebenso eingeschränkt ist das generalisierte Lernen.

Wie verhält sich der Hund im Kontakt mit Artgenossen?
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Das bedeutet, der Hund kann beispielsweise ein durch einen Schuss verursachtes Knallgeräusch nicht auf andere Knallgeräusche abstrahieren, also verallgemeinern. Demzufolge muss jedes Geräusch neu erlernt werden. Neigt ein Frühkastrat dazu, jeden fremden Hund anzupöbeln, kann sich dieses Verhalten nach mehrmaligem Kennenlernen legen. Alles, was wie ein Ritual täglich wiederholt wird, sitzt. Aber wehe, das Training wird vernachlässigt, dann scheint das Erlernte wieder vergessen zu sein.

Testesteron macht selbtbewusst

Ein weiteres Dilemma der Kastration ist bei den Rüden der Wegfall des angstlösenden Testosterons. Oder anders formuliert; Testosteron macht selbstbewusst und ist der hormonelle Gegenspieler des Stresshormons Cortisol. So zeigen sich insbesondere unsichere und ängstliche Rüden hinterher oft noch angstaggressiver als vorher. Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass sich das durch das Cortisol gesteuerte angstaggressive Verhalten verschlimmern kann.

Ist der Hund aggressiv oder eher hormongesteuert?
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Das Gleiche gilt für die Futteraggression. Auch Panik lässt die Cortisol-Produktion steigen. Nur scheint dies in vielen Köpfen noch nicht angekommen zu sein und so wird gerne gesagt: „Der Rüde ist dominant aggressiv und die Kastration wird ihn runterfahren.“ Sicherlich kann in Einzelfällen und nach genauer Ursachenanalyse die Kastration das probate Mittel sein. Aber immer nur dann! Für die Rüden gibt es seit vielen Jahren eine Art Probelauf: den Kastrationschip, die sogenannte GnRH-Downregulation. Er zeigt uns eins zu eins, wie sich der Rüde nach einer Kastration verhält und entwickeln wird.

Bei Hündinnen kann der Eingriff positiv sein

Bei der Hündin haben wir es mit mehreren Sexualhormonen zu tun, die zu unterschiedlichen Zeiten während des Läufigkeitszyklus ausgeschüttet werden. Depressive Stimmungen, große Zickigkeit oder gesteigerte Aggression rund um die Läufigkeit können sich durch die Kastration positiv verändern. Sind die Hündinnen sehr weiblich, eher unsicher oder angstgesteuert, wird sich dieses Verhalten wie beim Rüden verschlimmern. Hündinnen mit einem eher männlichen Verhaltensprofi, also sehr selbstbewusst und statusorientiert, mutieren nach dem Eingriff gerne zur „aggressiven Rüdin“.

Der Fall von Hündin Agila

So der Fall bei Labrador Retriever Agila. Sie war alle vier Monate läufig und ihr Hormonstand quasi nie normal. Alle Versuche, den Zyklus zu verlängern, schlugen fehl. Also sollte die Kastration im Alter von 4½ Jahren Erleichterung bringen. In puncto Läufigkeit war dies tatsächlich der Fall, allerdings wurde jede Ressource, egal ob Futter oder Spielzeug, verbissen verteidigt. Ausnahme machten dabei nur ein paar wichtige Hunde-Freunde. Jeder für sie interessante Rüde wird seitdem besprungen. Wirkliche Spielsituationen kommen nur sehr selten zustande, denn die Rüden sind so perplex und deren Hundebesitzer verunsichert, dass sie schnell das Weite suchen. Überhaupt hat Agila jegliche Verhältnismäßigkeit verloren. War sie vor der Kastration eine super Hilfe beispielsweise in der Welpenerziehung, so ist sie heute einfach nur noch grob. Ihre Motivation und ihr Ansinnen sind immer gerechtfertigt, aber die Umsetzung schießt meist über das Ziel hinaus. Dies sind Situationen, die der Halter managen muss, kann er es nicht, ist die Frustration auf beiden Seiten sehr groß.

Kastration sollte gut überlegt sein

Verhaltenstherpeutin Christine Holst rät in punkto Kastration zur Umsicht
© Constantin Ludwichowski

Leider wird im Tierschutz fast ausnahmslos und ungeachtet der Persönlichkeit, des Alters und der Herkunft kastriert. Der Satz „gechipt, geimpft und natürlich kastriert“ scheint wie automatisiert.  Bitte nicht falsch verstehen, ich halte sehr wohl einige Kastrationsprojekte im Ausland für eine sinnvolle Maßnahme. Ich halte sie jedoch in dem Moment, in dem ein Hund nach Deutschland ausreisen darf oder hierzulande aufwächst für kein gutes Verfahren. Die Konsequenzen für die Vierbeiner und ihre oft entnervten, hilflosen Halter sind fatal. Daher appelliere ich mit Blick auf die Reproduktionsverhinderung für einen vernünftigen Umgang mit der Sterilisation. Christine Holst