Das ist die Gretchenfrage im Zusammenleben mit dem Vierbeiner und wahrlich nicht so einfach zu beantworten. Viele verhaltensbiologische Faktoren müssen dabei betrachtet werden und auch der Hund als Individuum. Einfluss auf das Verhalten können ebenso Schilddrüse oder Gene haben. Wichtig ist eine gründliche Anamnese.
Der Begriff Anamnese stammt ursprünglich aus dem Griechischen, bedeutet Erinnerung
und gilt als Schlüssel zur Diagnostik von Krankheiten. Das gründliche Hinterfragen und Aufzeichnen von Informationen eines Patienten machen sich ebenfalls Hundepsychologen und Verhaltensexperten zunutze. Denn für sie ist klar: Es gibt viel mehr für ein harmonisches Miteinander. Im normalen Training oder bei Auffälligkeiten nur mit den klassischen Methoden zu arbeiten, ohne genauer hinzugucken, das ist zu wenig.

Jeder Hund ist eine individuelle Persönlichkeit und hat das Recht, als solche gesehen zu
werden. Auch und insbesondere dann, wenn nicht alles nach Plan läuft. Traumatisierte Schnauzen, Gestrandete aus dem Tierschutz, Angstbeißer sowie unsozialisierte Rabauken, sie alle brauchen einen Dolmetscher, und zwar einen mit ganzheitlichem Ansatz. Einen, der nicht nur das Problem betrachtet, sondern auch all die Facetten dahinter beleuchtet.
Genau genommen hat jeder Hund das Recht auf diese Subjektivität. Allzu oft passiert es jedoch, dass ein unerwünschtes Verhalten mittels einer bestimmten Methode schnell
abgeschaltet werden soll – ohne es zu hinterfragen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, sie könne nicht funktionieren.
Klassisches Training hat seine Grenzen
Es ist möglich, mit dem Einsatz eines Futterbeutels oder Clickertraining den gewünschten Erfolg zu erzielen. Allerdings nur, wenn keine psychischen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorliegen und dann nur, wenn besagte Methode sowohl zum Zwei- als
auch zum Vierbeiner passt. Es gibt ja durchaus Kandidaten, die sich nicht durch Futter bestechen lassen.
Hunde sind soziale Lebewesen mit Bedürfnissen und individuellen Fähigkeiten – geprägt von einem komplexen Zusammenspiel aus Vererbtem (20 bis 25 Prozent), Umwelteinflüssen, Lernerfahrungen und Zufallsereignissen. Diese Persönlichkeit wird in dem klassischen Training, in dem es nur darum geht, einen schnellen Erfolg zu erzielen, oft außer Acht gelassen.
Die Gründe für ein Verhalten sind vielschichtig
Ein Halter ohne Grundwissen wird dem Trainer zunächst alles glauben, ohne es zu überprüfen. Wenn Fiete oder Luna bei ihm plötzlich brav an der Leine geht, in die sie
zuvor immer hineingesprungen sind oder hineingebissen haben, muss an dessen Führungsstil schließlich etwas dran sein. Doch zu Hause sind die Rabauken wieder
ganz die Alten, da nützen weder das Zwacken in die Lende noch das Reißen an der Leine noch andere fragwürdige Methoden. Sich hingegen etwas näher mit dem
Individuum Hund zu beschäftigen, erspart so manches irreführende Training und Missverständnisse zwischen Partnern, die sich eigentlich vertrauen sollten.

Die Gründe, aus denen Vierbeiner ein bestimmtes Verhalten zeigen, sind vielschichtig, niemals einseitig. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle wie Alter, Geschlecht, Fellfarbe, Rasse, Herkunft, Vorgeschichte und Haltungsbedingungen. Und auch der Mensch mit dem, was er in die Beziehung zu seinem vierbeinigen Freund einbringt.
Richtig reagieren bei Pupertät und Alter
In der tiefergehenden Betrachtung geht es darum, wie die individuelle Entwicklung aussieht, was das Verhalten des Hundes aktiviert und wie sein Anpassungswert ist. Einer der wichtigsten Gesichtspunkte ist das biologische Alter. Ein junger Schnösel stellt in der Pubertät nicht mit Absicht seine Ohren auf Durchzug, sondern einfach nur alles bisher Erlernte auf den Prüfstand. Bestehende Beziehungen werden erprobt, Grenzen neu
getestet, die Hormone spielen verrückt. Wer das berücksichtigt, kann adäquat reagieren.
Mit Ruhe und Geduld, einem klaren Regelwerk, unmissverständlicher Kommunikation und konsequentem Training. Wohl die meisten Fehlinterpretationen treten bei den Senioren
auf. Nicht nur das Nachlassen ihrer Sinne, insbesondere die des Hörvermögens und Sehens, beeinflussen die grauen Schnauzen darin, wie sie die Welt wahrnehmen. Auch ihr Cortisolspiegel erhöht sich, und der ist eng mit der verhaltensbiologischen Alterung und ihren Begleiterscheinungen verknüpft. Was kurze Zeit vorher für den Hund alltäglich und leicht zu meistern war, wird nun zu einem Problem.

Wenn einfach alles zu viel wird
Ist Bello durch einen Aspekt in seiner Umwelt gestresst oder dauerhaft überfordert? Im weiten Feld der Neurosen geht es darum, die unterschiedlichen Deprivationsschäden und Fehlprägungen des Hundes zu verstehen. Sie entstehen vorwiegend durch fehlende
Sozial- oder Umweltreize, zu einseitigen Kontakt zum Menschen und fehlendem zu Artgenossen. Verhaltensstörungen können aber auch anderweitig erworben sein, beispielsweise durch eine beengte oder reizarme Haltung, stereotype Bewegungsmuster, traumatische Erlebnisse oder Hyperaktivität.
Störung oder nicht?
Nicht jedes Problem muss gleich eine Störung bedeuten, sondern kann lediglich ein unerwünschtes Verhalten sein. Manchmal reicht es aus, ein paar kleine Dinge zu verändern, beispielsweise Stressfaktoren auszuschalten. Schmerz ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt und bleibt allzu häufig unerkannt. Schließlich sind unsere Hunde Meister darin, ihn zu verstecken, um ja keine Schwäche zu offenbaren.
Oder aber sie zeigen ihn in Form eines Verhaltens, das wir falsch deuten. Ein gutes Beispiel dafür ist eine volle Analdrüse. Eine sehr unangenehme Angelegenheit. Wenn’s hinten juckt, lecken sich die Vierbeiner als Übersprungshandlung oft die Pfoten, was der Halter wiederum zu unterbinden versucht.
Die Schilddrüse – tückisches Schmetterlingsorgan
Gleichwohl kann ein kleines Organ großen Einfluss auf das Verhalten des Hundes haben: Die Rede ist von der Schilddrüse. Die lebenswichtige Hormondrüse steht im engen Kontakt mit fast allen anderen Organen, beeinflusst mit ihren Botenstoffen unter anderem Herz,
Blutdruck, Nahrungsverwertung, Aufnahme von Glucose, den Stoffwechsel von Fetten, Eiweißen und Kohlenhydraten, die Insulinproduktion, Magen und Darm, Muskeln, Wachstum, Gehirnaktivität und Psyche.

Vorwiegend leiden Hunde an einer Unterfunktion des Organs. Das bedeutet, dass es nicht genug von den notwendigen T3- und T4-Hormonen produziert, was wiederum den gesamten Körper in Mitleidenschaft zieht. Neben den physischen Symptomen sind Antriebslosigkeit, Apathie, eingeschränkte Lernfähigkeit, Konzentrationsmangel, Reaktivität, Stimmungsschwankungen, Angst oder Aggression bemerkbar. Dann sollte eine gründliche Anamnese erfolgen. Über das große Blutbild stellt der Tierarzt eine Schilddrüsenstörung fest und wird eine medikamentöse Therapie anordnen.
Genetische und epigenetische Einflüsse
Welchen Einfluss haben Rasse und Züchtung – was liegt in den Genen, woraus wir Rückschlüsse ziehen können? Mut, Trainierbarkeit, Soziabilität und Gelassenheit sind
jedoch nicht nur eine Frage der Abstammung, sondern auch der gesellschaftlichen Position des Vierbeiners.

Je integrierter der Vierbeiner ist, umso weniger scheint er anfälliger für Aggression zu sein. Auch das Alter der Besitzer kann einen Einfluss auf sein Verhalten haben. In einer großen Studie wurde herausgefunden, dass Menschen im Alter zwischen 19 und 30 Jahren die unruhigsten, aber auch die kühnsten Hunde hatten. Die lernfähigsten und geselligsten waren dagegen in der Gruppe der 31– bis 60-jährigen Halter zu finden.
Die Tiere melden Bedürfnisse bei uns an, wir stehen in der Verantwortung, sie zu erfüllen. Werden ihre Rechte auf soziale Interaktion, Angst, Stress, Leid oder aber Über- oder Unterforderung ständig ignoriert, haben sie keine Chance auf ein artgerechtes Leben. Nur wenn wir bereit sind, genauer hinzuschauen und zwischen normalem und gestörtem Verhalten unterscheiden zu lernen, nur wenn wir die vielfältigen Bedürfnisse unserer
Vierbeiner anerkennen, können wir unserer Sorgfaltspflicht wirklich nachkommen. Suzanne Eichel/Christine Holst
Zum Buch:
Hundeverhaltensbiologie ist längst keine Wissenschaft mit sieben Siegeln mehr, sondern in diesem Buch richtig spannend aufbereitet. Ein tiefergehendes Verständnis führt zu dem, was unsere Vierbeiner wollen: selbstbewusste Frauchen und Herrchen! Solche, die vielleicht sogar eine Antwort auf die Frage finden: „Warum tut mein Hund, was er tut?“ Und voller Stolz die Perspektive wechseln anstatt ständig die Straßenseite.
Der Anamnese-Leitfaden für Hundetrainer mit Geleitworten von Dorit Feddersen-Petersen und Günther Bloch sowie neuen Beiträgen von Ádám Miklósi, Suzanne Eichel und Petra von der Ahe
Ulmer Verlag · ISBN 978-3-8186-1145-3 · 29,95 €